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Studienreise Tschechien – Tag 1: Ústí nad Labem

Vom 11. bis 16. September 2023 war ich einer von zwölf Personen, die dank des BIB an einer Studienreise in die Tschechische Republik teilnehmen durften, um sich dort zukunftsweisende Bibliotheken anzusehen und am diesjährigen Bibliothekskongress in Olomouc teilzunehmen. Da ich Berufseinsteiger bin und erst seit Februar diesen Jahres im Bibliothekssektor arbeite – in der Zentralbibliothek der Stadtbücherei Frankfurt am Main – sah ich darin eine perfekte Gelegenheit, um über meinen Tellerrand zu blicken, neue Inspirationen zu sammeln und mit Kolleg:innen sowohl aus Deutschland als auch Tschechien in Austausch zu treten.

Den Start machte am Montag, den 11.09., die Regionalbibliothek in Ústí nad Labem. Es war nicht nur die erste Station und die erste Bibliothek unserer Reise, es war gleichzeitig auch der Moment, in dem wir uns als Reisegruppe erstmals zusammenfanden. Einige, die von weit her kamen, waren bereits am Sonntag angereist und hatten die Chance, sich abends kurz kennenzulernen, aber kurz vor Mittag an diesem heißen Septembermontag trafen alle zwölf junge und junggebliebene Bibliothekar:innen im schattigen Außenbereich der Bibliothek Ústí nad Labem erstmals aufeinander. Es war eine bunt durchmischte Gruppe – im Alter zwischen 23 und 48 Jahren, tätig in öffentlichen wie auch wissenschaftlichen Bibliotheken verstreut in ganz Deutschland, voller Hoffnungen und Erwartungen, was ihnen in den kommenden fünf Tagen alles bevorsteht. Dass es ein straffes Programm werden würde, wussten wir alle, dennoch fanden wir ausreichend Zeit, uns untereinander kennenzulernen und über Berufliches sowie Privates auszutauschen. Ich denke, vielen meiner Mitreisenden ging es ähnlich, ich hatte keine Ahnung, wie schön unsere gemeinsame Zeit werden würde und wie schnell wir als Gruppe zusammenwachsen. Der geteilte Bibliothekshintergrund war sicherlich ein effektiver Eisbrecher, aber auch gemeinsam so vieles in so kurzer Zeit erlebt zu haben, hat seinen Teil dazu beigetragen.

Viele erwähnten, dass sie nach ihren Bewerbungen für diese Reise keine allzu großen Hoffnungen hegten, am Ende auch eine Zusage zu erhalten, aber das hatten wir alle. Man schickte uns auf ein Abenteuer in unsere Nachbarnation, mit der Aufgabe, mit neugierigen, wissbegierigen Augen und Ohren durch die Bibliotheken zu gehen und so viel Inspiration mit nach Hause zu bringen, wie wir können. Wie schrieb schon Oscar Wilde – „Imitation is the sincerest form of flattery.“ Und auch wenn das Budget in den meisten Büchereien nicht für Astronomietürme, Kinderbereiche mit Aquarien und Rutschen oder Trickfilmstudios ausreicht, habe ich auch reichlich Anregungen in kleineren Größenordnungen mitnehmen können, die ich nach meiner Rückkehr sofort in meiner Heimatbibliothek in die Tat umsetzen wollte. In diesem Sinne war die Studienreise für mich persönlich schon einmal ein voller Erfolg. Aber bevor ich zu viel vorwegnehme, starte ich mit unserem Besuch in Ústí nad Labem.

Nachdem unser Gepäck im kühlen Keller verräumt war, den viele gar nicht mehr verlassen wollten, begrüßte uns die Direktorin der Bibliothek. Sie erzählte uns von den drei Grundpfeilern ihrer Institution – education, communication, preservation of memory (ihre tschechische Begrüßung wurde von einer ihrer Kolleginnen – der Leiterin des American Institutes – ins Englische übersetzt), was sie mit ihrem 25-jährigen Hintergrund in Schulen bestens zu verkörpern scheint. Als eines ihrer größten Anliegen führte sie an, die Bibliothek Ústí nad Labem ins 21. Jahrhundert bringen zu wollen. Anfangs war ich skeptisch, was sie genau mit einer oftgehörten Aussage konkret meinte, ich hatte ja keine Ahnung, wie ernst es ihr damit wirklich war.

Eingangsbereich und Infothek einer Bibliothek.
Eingangsbereich der Bibliothek Ústí nad Labem.

 

Die Bücherei Ústí nad Labem ist in drei Standorte aufgeteilt. Als erstes wäre da die Bibliothek mit großem Präsenzbestand, regelmäßig wechselnden Kunstaustellungen, Lernräumen und PC-Arbeitsplätzen. Zum Zeitpunkt unseres Besuchs war dieser Standort aufgrund von Umbaumaßnahmen vorübergehend für den Publikumsverkehr geschlossen, was uns alle Zeit der Welt gab, uns ganz in Ruhe umzusehen, ohne spielende Kinder oder lernende Schüler:innen zu stören. Stattdessen hörten wir laute Baumaschinen und trafen immer wieder Bauarbeiter an, die zwischen den Regalen mit Werkzeug und Baustoffen umherliefen. Es erfüllte mich mit sehr gemischten Gefühlen. Einerseits ist es immer schöner, Menschen in der Bibliothek anzutreffen, andererseits löste der Baulärm gleichzeitig auch eine gewisse Vorfreude aus, dass die Bibliothek modernisiert wird und der Öffentlichkeit noch umfangreicher zur Verfügung steht als zuvor. Unsere Führerin erzählte uns auch von Kryptonite, ihrem Kater, der sich verhält, als wäre er ein Hund, den sie regelmäßig an Freitagen mit in die Bibliothek bringt und der von Besucher:innen aller Altersstufen gleichermaßen geliebt wird. Vor allem Kinder und Jugendliche mit Autismus profitieren besonders von diesen „furry Fridays.“

Was mich persönlich an diesem Standort am meisten begeisterte, war das American Center. Neben einem großen Bestand an Lernmedien und englischsprachiger Literatur werden hier zahlreiche Hilfestellungen geboten, die weit über die herkömmliche Bibliotheksarbeit hinausgehen, wie ich sie bisher kennengelernt habe. Egal, ob man Unterstützung dabei benötigt, sich bei Oxford oder Cambridge einzuschreiben, Prozesse von Aufnahmeprüfungen nicht ganz versteht oder einfach Informationen zu einem Auslandsstudium und Finanzierungsmöglichkeiten einholen möchte, hier ist man an der richtigen Adresse. American Institutes gibt es in zahlreichen Städten, die gute diplomatische Beziehungen mit den Vereinigten Staaten pflegen, und es geht stets darum, jungen Menschen den Eintritt in die englischsprachige Welt so einfach wie möglich zu gestalten. Ich dachte mir, dass ein solches Institut, nicht nur für die Vereinigten Staaten und Englisch, sondern auch für viele andere Nationen und Sprachen in jeder Bibliothek der Welt sicher auf Anklang stoßen würde, weiß aber natürlich auch, dass es (einmal ganz abgesehen von diplomatischen und politischen Verwobenheiten) personell und auf Geldmittel bezogen bei weitem nicht immer realisierbar ist. Dennoch, speziell auf Ústí nad Labem bezogen stellt dieses Angebot ein hervorragendes Beispiel dar, wie gleich zwei Grundpfeiler der Bibliothek (education und communication) in den angebotenen Services umgesetzt werden.

Schild mit der Aufschrift "American Center Ústí nad Labem"
Das American Center der Bibliothek.

Nach einem kurzen Halt im zweiten Gebäude, in dem das Magazin bzw. Archiv in endlosen Regalreihen untergebracht ist, war die dritte Station das PR Department, in dem verschiedene Aktivitäten und Veranstaltungsformate für die Öffentlichkeit geplant und durchgeführt werden. Es handelt sich um ein monatlich 15-20 Veranstaltungen umfassendes Programm, bestehend aus pädagogischen sowie kulturellen Angeboten (Lesungen, Konzerte, Filmvorführungen etc.), die häufig in Zusammenarbeit sowohl mit Non-profit als auch For-profit Partnern der Region auf die Beine gestellt werden. So war der Leiter des PR Departments besonders stolz auf den jährlich stattfindenden Ball, dessen Einnahmen zusammen mit den Erlösen der Wohltätigkeitsauktion des Abends für gute Zwecke gespendet werden – beispielsweise an regionale Tierheime. Er berichtete auch vom diesjährigen Pride Month; zusätzlich zu regelmäßigen Literatur-Tipps zu lgbtq+ Themen auf den Social-Media-Kanälen der Bücherei wurde eine ganze Reihe von Veranstaltungen zu queerer Identität organisiert. Eine Lesung für Kinder aus einem Märchenbuch über die Liebesgeschichte zweier Prinzen spaltete die öffentlichen Gemüter. Einerseits wurde die an der Bibliothek aufgehängte Regenbogenflagge gestohlen und verbrannt und ein Petitionsstand wollte Besucher abhalten, der Lesung über die zwei Prinzen beizuwohnen, anderseits wurde die Bücherei von der Ústí nad Labem queer community angesprochen und als offizieller Partner für den Pride Month 2024 ins Boot geholt.

Am Ende unseres Aufenthalts in Ústí nad Labem führte uns der PR Direktor noch durch die übrigen Räume seines Standorts. Neben Medienausleihe und Veranstaltungsräumen gibt es dort auch noch professionell ausgestattete maker spaces für unterschiedlichste Aktivitäten. Während wir von Raum zu Raum liefen, kam unsere Gruppe gar nicht mehr aus dem Staunen. Es gab ein Zimmer voller 3D-Drucker, eines mit industriellen Maschinen zur Holzverarbeitung, ein professionelles Trickfilmstudio voller hochwertiger Ausstattung sowie ein Zimmer für allgemeine Bastel- und Handarbeiten. Die Aussage der Bibliotheksdirektorin, sie wolle ihre Institution ins 21. Jahrhundert bringen, klang anfangs nach einer Floskel, die man heutzutage viel zu häufig hört, selten habe ich sie mit so viel Nachdruck in allen Tätigkeitsfeldern des operationalen Tagesgeschehens umgesetzt gesehen wie hier. Aktuelle gesellschaftliche Themen und neuste technische Möglichkeiten werden in Ústí nad Labem ganz natürlich in den Bibliotheksalltag gebracht und mit den klassischen Aufgaben der Medienausleihe zusammengeführt. Alle Angebote sind kostenlos in der Mitgliedschaft des Büchereiausweises inbegriffen und bieten auf diese Weise attraktive, niederschwellige Angebote für die gesamte Gesellschaft. Community Center, Ort der Begegnung und Entspannung, Sprachschule und Vermittlungsagentur, Wissensstätte für lebenslanges Lernen für Jung und Alt. Die Bücherei in Ústí nad Labem ist all das und vieles mehr. Ein spannender und hochinteressanter Auftakt in eine Woche, die nur noch besser werden sollte.

Von Niklas Haberkorn

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