Am 155.Tag seit Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine fand am 28. Juli 2022, dem letzten Konferenztag des WLIC2022, eine von der Europäischen Regionalen Abteilung der IFLA (EURDC) veranstaltete Session 127: „Europäische Bibliotheken in einer Zeit des Kriegs: Antworten auf die Krise in der Ukraine“ statt.
Oksana Boiarynova vom Ukrainischen Bibliotheksverband bat zu Beginn ihres Vortrags um eine Schweigeminute für die Getöteten des Kriegs. Sie berichtete unter Bezug auf die Statistik des Ukraine-Berichts des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UN OCHA, United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs)[1], dass zum Stand 13. Juli 2022 bereits 15,7 Millionen Menschen unter der militärischen Aggression litten und der humanitären Hilfe bedürfen. 12,1 Millionen Menschen wurden demnach aufgrund des Kriegs gezwungen, ihr Heim zu verlassen. 5.020 Zivilisten wurden seit Beginn der bewaffneten Aggression getötet, darunter 353 Kinder; die noch unbekannte Zahl der Getöteten der Stadt Mariupol nicht mit eingerechnet. 6.520 Zivilisten wurden seit Beginn der bewaffneten Aggression verletzt, darunter 666 Kinder. 1,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, darunter 200.000 Kinder, wurden nach Russland deportiert. Oksana Boiarovna zeigte eine Aufnahme des riesigen Gräberfeldes von Irpin, einer Stadt am Ufer des Flusses Irpin etwa 27 Kilometer nordwestlich von Kyiv.
Boiarynova berichtete von schweren Zerstörungen an Kulturgut: mehr als 413 Denkmäler und Kulturobjekte seien als Ergebnis der militärischen Invasion Russlands auf das Gebiet der freien Ukraine zerstört worden. Sie wies darauf hin, dass gemäß der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten von 1954[2] die Zerstörung von Kulturerbestätten ein Kriegsverbrechen ist. Über 60 Bibliotheken in der Ukraine seien bereits zerstört, darunter Bibliotheken in Kharkiv, die Stadtbibliothek von Chernihiv und die Öffentliche Zentralbibliothek von Mariupol. Informationen über das zerstörte Kulturerbe der Ukraine würden vom Kulturministerium der Ukraine auf der Webseite CultureCrimes (Kulturverbrechen) dokumentiert: https://culturecrimes.mkip.gov.ua/.
Vor der Russländischen Invasion der Ukraine gab es laut Angaben des Ukrainischen Bibliotheksverbands 14.351 offene Bibliotheken, zum Stand 1. Juni 2022 waren nur noch 11.876 Bibliotheken offen. 19 Bibliotheken seien komplett und irreparabel zerstört, 115 Bibliotheken teilweise zerstört und bedürften größerer Reparaturen. 124 Bibliotheken erlitten geringfügigere Schäden und seien reparaturbedürftig, z.B. müssten Fenster oder Türen ersetzt, das Dach oder die Fassade teilweise repariert werden. Durch den Rakatenbeschuss des Bahnhofs von Kramatorsk am Freitag, den 8. April 2022 seien 62 Menschen gestorben, darunter zwei Bibliothekarinnen.
Der Ukrainische Bibliotheksverband richtete einen Hilfsfonds ein, um Bibliothekarinnen und Bibliothekaren in den von Kämpfen betroffenen Regionen finanzielle Hilfe zu leisten. Es seien bislang 10.000 Dollar als Hilfe für 150 von der Russischen Invasion betroffene Bibliotheksmitarbeitende überwiesen worden. Der Ukrainische Bibliotheksverband rief Mitarbeitende in Bibliotheken dazu auf, Dokumente über den andauernden Krieg in der Ukraine zu sammeln und erste Sammlungen für eine zukünftige Digitale Bibliothek der Ukraine aufzubauen. Gesammelt werden sollten Fakten (Fotos, Videos, Audio) zum Angriff Russlands und zum Widerstand in der Ukraine sowie u.a. Poster, Geschichten, Witze und Volkskunst, die den Willen der ukrainischen Menschen zur Freiheit oder den Humor der Menschen zeigten. Auch gefälschte Nachrichten – Fakes, vom Kriegsgegner verbreitet , um den Widerstand der Menschen in diesem Krieg zu schwächen – sollten gesammelt und dokumentiert werden.
Der Ukrainische Bibliotheksverband helfe Bibliothekarinnen und Bibliothekaren dabei, Kulturerbe zu bewahren, indem Datenbanken auf Servern in anderen Ländern gesichert und Back-ups von Daten erstellt würden. Oksana Boiarynova dankte insbesondere dem Projekt Saving Cultural Heritage Online SUCHO https://www.sucho.org/ und dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste im „Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine“ und wies auf die Datenbank Lost Art hin. Die ukrainischen Suchmeldungen in Lost Art fänden sich unter https://www.lostart.de.
Die aktuelle Situation der Bibliotheken in der Ukraine sei überaus schwierig: viele Bibliotheken hätten nur sehr geringe finanzielle Mittel, versuchten aber dennoch, die Community und den innerhalb des Landes geflüchteten Personen mit sozialen Diensten zu versorgen, z.B. durch Kleiderausgabe, Bereitstellung von Medien, Vermittlung von Unterkünften etc.
Um Ukrainische Bibliotheken zu unterstützen, habe die American Library Association zusammen mit polnischen Kollegen den Ukraine Library Relief Fund als Spendenaktion gestartet: https://www.ala.org/aboutala/ukraine-library-relief-fund.
Der Krieg wirke sich erheblich auf die Bibliotheksdienstleistungen aus. In der Zeit des Kriegs, unter dem Zeichen des herrschenden Informationskriegs, würden Öffentliche Bibliotheken in der Ukraine solche Bücher aus ihren Sammlungen aussondern, die aggressive russische Propaganda und anti-ukrainischen Kontext enthielten.
Der Ukrainische Bibliotheksverband habe Bibliothekarinnen und Bibliothekare auf der ganzen Welt aufgerufen, ihre Regierungen dazu zu bewegen, miltitärische Unterstützung für die Ukraine zu leisten, Kooperationen mit Russländischen Einrichtungen zu beenden und zuverlässige Information über diesen Krieg zu verbreiten.
Mit Hilfe des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen und Schwedens, habe der Ukrainische Bibliotheksverband eine Reihe von Webinaren für Bibliotheksnutzende lanciert, welche die Info- und Cyber-Sicherheit in sozialen Netzwerken und Messenger-Diensten und Sicherheit von Finanztransaktionen online behandelten.
Bibliothekarinnen und Bibliothekare aus der Ukraine moderierten die vom Kulturministerium der Ukraine eingerichtete internationale Plattform #MyWar (www.mywar.in.ua). Auf der Plattform erzählten Menschen unter dem Hashtag #MyWar, ukrainisch: #MojaVijna [mein Krieg] ihre Geschichte und wie sie den Krieg in der Ukraine erlebten. Die Erzählungen würden automatisiert in eine Vielzahl von Sprachen übersetzt angezeigt, darunter auch in den offiziellen sieben IFLA-Sprachen Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Russisch und Spanisch. Provisorische Bibliotheken seien in der Ukraine in Schutzräumen unter der Erde errichtet worden, in U-Bahn-Höfen und Luftschutzkellern. Bibliotheken dienten auch als logistische Zentren der humanitären Hilfe und für die displaced persons. Sie fungierten zudem als Zentren der Freiwilligenarbeit, um Lebensmittel und Hilfsgüter zu verteilen oder um Tarnnetze zu knüpfen. Bibliotheken organisierten Veranstaltungen zur Therapie für die Opfer des Kriegs, darunter auch für Kinder.
Im folgenden Vortrag berichtete Ismet Ofčina, Direktor der der National- und Universitätsbibliothek Bosnien und Herzegovina in Sarajevo, Bosnien und Herzegovina, von der Zerstörung der Bibliothek im historischen Gebäude Vijećnica in den Jahren des Kriegs 1992-1995. Ein Video auf dem Portal YouTube zeige die Bibliothek Vijećnica in Flammen (Gradska Vijećnica u plamenu).[3] [In der Zeit der Belagerung Sarajevos im Bosnienkrieg wurde die Bibliothek in der Nacht vom 25. auf den 26. August 1992 durch Beschuss serbischer Belagerer schwer beschädigt.] Mehr als 2 Millionen Bücher, Manuskripte, Karten, Mikrofilme, Schallplatten und andere Dokumente seien verbrannt. Insgesamt seien nur 17.700 Manuskripte und Rara der Bibliothek gerettet worden. Ab 1996 habe die Rekonstruktion des Gebäudes begonnen, inzwischen wieder errichtet, warte die Bibliothek noch immer darauf, in das von Behörden beanspruchte Gebäude einziehen zu können.
Zum Abschluss berichtete Tom van Vlimmeren von den Aktivitäten von EBLIDA (European Bureau of Library, Information and Documentation Associations). EBLIDA hatte als Protest gegen den Angriffskrieg der Russischen Föderation bereits am ersten Tag des Kriegs am 24.02.2022 die Pressemeldung The Russian Federation barbaric attack against Ukraine – Joint European Declaration veröffentlicht.
In der anschließenden Fragerunde kritisierten Kolleginnen und Kollegen aus Polen und der Ukraine den Sprachgebrauch der IFLA in offiziellen Stellungnahmen, die in ihren Statements zur Ukraine von einer „Krise in der Ukraine“ spreche, den Begriff „Krieg“ vermeide und den Aggressor nicht benenne. Die IFLA folge mit dem Sprachgebrauch der Russländischen Propaganda. Die von diktatorischen Regimes verbreitete Desinformation im Krieg sei sehr wirkmächtig, daher käme es auf Formulierungen an („words matter“). In der Zeit der Präsidentschaft Donna Scheeders im Jahr 2015 habe die IFLA mit Hinweis auf die UN-Menschenrechtserklärung entschieden gegen die Angriffe auf die Bibliothek für Ukrainische Literatur in Moskau und die Inhaftierung der Bibliotheksdirektorin protestiert. In 2022 hätten die Stellungnahmen der IFLA Anlass zur Frage gegeben, ob die IFLA ihren eigenen ethischen Richtlinien entsprechend handle. Eine Diskussion konnte aus Zeitgründen nicht mehr stattfinden.
Tetyana Batanova von der nach V.I. Vernadskyj benannten Nationalbibliothek der Ukraine, der größten Bibliothek der Ukraine, informierte auf dem WLIC2022 mit dem Poster Bibliotheken in der Zeit des Kriegs in der Ukraine 2014 bis 2022 über die Situation der Bibliotheken in der Ukraine.
In der Versammlung der deutschsprachigen Kongressteilnehmenden, dem German Caucus, berichtete Barbara Schleihagen von der Zusammenarbeit deutscher und ukrainischer Bibliotheken und den Aktivitäten des Deutschen Bibliotheksverbands dbv. Sie wies auf die gemeinsame Online-Veranstaltung mit Vorträgen am 11. Mai 2022 hin: Zur aktuellen Situation ukrainischer Bibliotheken und Bibliothekar*innen: Kollaboration, Kooperation und Unterstützung.
Barbara Schleihagen berichtete von der Kooperation mit dem Goethe-Institut bei dem Projekt Ein Koffer voll mit Büchern[4] und dem Stipendienprogramm Bibliotheken und Archive für Geflüchtete aus der Ukraine NUMO[5], das mit Mitteln der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien gestartet worden sei.
Links:
[1] UN OCHA: Bericht zur Ukraine https://reports.unocha.org/en/country/ukraine
[2] Convention for the Protection of Cultural Property in the Event of Armed Conflict with Regulations for the Execution of the Convention 1954 http://portal.unesco.org/en/ev.php-URL_ID=13637&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html
[3] Gradska Vijećnica u plamenu (Städtische Vijećnica in Flammen. YouTube https://www.youtube.com/watch?v=ZREijkwTRXk).
[4] Goethe-Institut: „Ein Koffer voll mit Büchern“ Ab sofort: „Ein Koffer voll mit Büchern“ auf Ukrainisch für Bibliotheken – 2022 – Goethe-Institut
[5] dbv: NUMO. Stipendienprogramm Bibliotheken und Archive für Geflüchtete aus der Ukraine https://www.bibliotheksverband.de/numo-stipendienprogramm-bibliotheken-und-archive-fuer-gefluechtete-aus-der-ukraine?s=03
Abbildungsverzeichnis:
Abbildung 1: IFLA WLIC2022: European Libraries in a Time of War. Ukraine. Foto: Anna Bohn, CC BY-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de
Abbildung 2: WLIC2022. Ismet Ofčina zur Rekonstruktion der im Krieg 1992-1995 zerstörten Vijećnica, der National- und Universitätsbibliothek Bosnien und Herzegovina, in Sarajevo. Foto: Anna Bohn, CC BY-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de
Abb. 3. Poster WLIC2022: Libraries in the time of War 2014 – 2022. Posterpräsentation der Vernadsky National Library of Ukraine. Foto: Anna Bohn, CC BY-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de
Abb. 4: WLIC2022. Tetyana Batanova, Vernadsky National Library of Ukraine im Gespräch mit Barbara Schleihagen, dbv, zur Zusammenarbeit deutscher und ukrainischer Bibliotheken. Foto: Anna Bohn, CC BY-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de